Orna | *1968
Schamanin
Selbst auf dem Boden zu liegen, ermöglichte mir, die Kraft des Aufstehens zu generieren.
Es lehrte mich das Heilen und Mitgefühl zu entwickeln.
In meinem kürzlich erschienen Buch «Herzschlag und Trommel» schildere ich meinen Werdegang als Schamanin. Darin habe ich Dinge preisgegeben, von denen nicht einmal meine Nächsten etwas wussten. Zuerst war es schwierig auszuhalten, diesen mutigen Schritt gewagt zu haben. Aber jetzt macht es mir nichts mehr aus. Im Gegenteil. Es ist Entspannung und Ruhe eingekehrt. Ich denke, dass ich ein Glückspilz bin. Denn ich liebe meine Arbeit. Die Begegnung mit einer Klientin oder einem Klienten ist nie oberflächlich, meist intensiv und oft überraschend in den Wendungen. Im Leben hingegen fühlte ich mich so manche Male als Unglückspilz. Jetzt mal ernsthaft: Wer möchte freiwillig Schamane sein? Niemand weiss so richtig, was das ist. Die einen denken sofort an Scharlatane, andere an Magier, wieder andere an Menschen, die mit speziellen Superkräften ausgestattet sind. Dass der Weg des Schamanen oft ein steiniger und schmerzhafter ist, der einen bis an die Grenzen des Erträglichen bringt, bedenkt kaum jemand. Wenn ich gefragt werde, warum Schamanen vor und während ihrer Lehrzeit so einen Leidensweg haben, antworte ich: Selbst auf dem Boden zu liegen ermöglichte mir, die Kraft des Aufstehens zu generieren. Heilung zu suchen, lehrte mich vieles über das Heilen und Mitgefühl zu entwickeln. Nicht weiterzuwissen, schulte meine Kreativität und nährte den Drang, verstehen zu wollen. Und nicht zuletzt: Schamanen sind unter anderem Übersetzer von Impulsen aus der geistigen Welt. Sie durchlaufen eine Zeit der emotionalen und psychischen Reinigung und der geistigen Ausrichtung, die manchmal sehr kurvenreich sein kann. Manche Menschen sind im ersten Moment irritiert, wenn sie erfahren, woher ich komme. Andere dichten mir eine neuseeländische Staatsbürgerschaft an, weil meine Lehrerin Maori war. Aus der Schweiz kommen Uhren, Schokolade und Käse. Aber Schamanen? Zu meinen Teenager Zeiten gehörte es nicht zum Allgemeinwissen, dass es Menschen gibt, die sensitiv sind. Sensibel schon eher. Aber sensitiv? Aufgewachsen bin ich mit dem Geruch von Terpentinöl, das aus dem Atelier meines malenden Vaters strömte, während verheissungsvolle Gerüche aus der Küche meiner Mutter die Nase kitzelten. Beide wollten nicht über ihre Zutaten ausgefragt oder genauer beobachtet werden. Sie wollten den alchemistischen Zauber bewahren. Und da es geheim war, regte es meine Fantasie an. Lange wusste ich nicht, welchen Berufsweg ich einschlagen könnte. Ich liebte es zu tanzen, zu singen, zu schauspielern und zu malen. Durch einen Stimmverlust wurde es dann aber sozusagen entschieden. Ich wurde Sängerin. Mein erstes Solokonzert gab ich mit neunzehn Jahren. Siebzehn Jahre später beschloss ich, mit dem professionellen Gesang aufzuhören, um gleich nach der ersten Begegnung mit meiner Schamanenlehrerin wieder damit zu beginnen. Sieben Jahre sollte ich an ihrer Seite mitwirken und von ihr lernen. Möchte ich den zurückgelegten Weg noch einmal gehen? Nein danke. Möchte ich auf meinem Weg weitergehen? Ja, sehr gerne! 2021