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Jaro | *2003

Musiker, Betreuer in Ausbildung

"Die Mischung Soziales und Kunst ist total mein Ding. Wenn ich Songs schreibe, singe und mit andern Jungs musiziere, schüttet mein Body Glückshormone aus, dann brauche ich keine Substanzen. Es macht mir Freude und ich fühle mich lebendig."

Junger Mann freut sich am Leben

Jaromir heisst Friedenskämpfer. Meine Mutter sang böhmische Weisen, als sie mit mir schwanger war und mit einer Kapelle des tschechischen Musikers Josef Vejvoda auftrat. Sein Vater Jaromir Vejvoda komponierte den Welthit «Rosamunde» und stand Pate für meinen Namen. Ich mag Jaromir, auch meinen zweiten Maximillian finde ich cool.  Als kleiner Knirps von etwa zwei wollte ich Kochen spielen. Ich zog eine volle Eierschachtel aus dem Kühlschrank und sie knallte auf dem Küchenboden. Fasziniert verrührte ich mit den Fingern die gelben Dotter mit der klebrigen, durchsichtigen Sauce. Die Eierschalen wurden zu Schiffchen auf dem Eiermatch-Meer. Ich war so vertieft, dass ich nicht bemerkte, wie meine Mutter mich beobachtete und fotografierte. Das Bild finde ich heute noch sweet. Viele Erinnerungen an meine Kleinkindzeit sind jedoch verblasst. Ich weiss nur, dass ich nicht gerne in den Kindergarten ging und am liebsten zu Hause bleiben wollte.  Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich nicht, dass es mir über eine lange Zeit richtig gut ging. Es gab einzelne Momente, abhängig davon, was ich machte, in denen ich glücklich war. Ich wusste als Kind nicht einzuschätzen, was Gefühle sind. Es war einfach ein Zustand von Aushalten. Ich ging überhaupt nicht gerne zur Schule, weil ich wegen meines Übergewichts gehänselt und gemobbt wurde. Ich ass gerne, aus Frust und Langeweile viel. Mir war damals schon bewusst, dass ich anders bin. Was man selber von sich denkt, spiegelt sich im Aussen. Meine Klasse bestand aus lauter Eliteschüler*innen, ich war als normal begabter Junge immer das Schlusslicht und mogelte mich mit wenigen Erfolgserlebnissen durch die Primarschulzeit.   Ich war Mitläufer, manchmal Mittelpunkt, der laut auf sich aufmerksam machte. Manchmal bekam ich eins auf die Kappe, manchmal teilte ich aus. Es gab einen guten Kollegen, mit dem ich viel unternahm. Aber so einen Best Friend, mit dem ich über alles reden und auf den ich mich hundertprozentig verlassen konnte, hatte ich noch nie.    Mit dem Wechsel in die Oberstufe bekam ich schulisch endlich einen Vorsprung. Ich begann mich für Mädchen und Sport zu interessieren, verliebte mich. Es erwuchs ein starker Wille abzunehmen. Ich entwickelte Skills, mit Sport mein Gewicht zu regulieren und auf die Ernährung zu achten. Ich zog dies ein Jahr lang durch und verlor viele Kilos. Danach fühlte ich mich richtig wohl in meinem Körper und in dieser Zeit ging es mir so gut wie nie zuvor.    Ich lernte neue Leute kennen, die aus drei Dörfern zusammenkamen und hatte mehr Auswahl an Gleichgesinnten. In der Oberstufe hatte ich erste harmlose «Kindergarten» Erfahrungen mit Girls, mit Rumknutschen und so. Ich konnte mit Mädchen immer besser reden als mit Jungs, die zwischen dreizehn und sechzehn ziemlich kindisch sind. Mit den Gleichaltrigen kann man herumblödeln. Meine Oberstufenklasse bestand vorwiegend aus «Balkanesen», die sich alle privat kannten. Um zugehörig zu sein, stylte und kleidete ich mich wie sie. Als ich erkannte, dass ich mich doch nicht wohl und zugehörig fühlte und wieder abgrenzte, begannen sie sich über mich lustig zu machen. Auch in den sozialen Medien.    Im zweiten Oberstufenjahr ging ich am Wochenende aus, probierte erstmals Alkohol. Den ersten Joint rauchte ich mit einem Kollegen an einem Waldfeuer. Der Stoff, den mein älterer Kumpel besorgt hatte, war zwar «hässlich», aber wir hatten es sehr lustig. Wir tanzten um das Feuer und kugelten uns vor Lachen. Meine Eltern wussten nicht alles, aber ich hatte einen offenen Umgang mit ihnen und weihte sie meist ein. Einerseits hatte ich wenige Gleichaltrige zum Austausch und andrerseits war es mir immer wichtig, ehrlich mit ihnen zu sein. Dies führte jedoch auch dazu, dass sich meine Eltern für meine Begriffe viel zu grosse Sorgen um mich machten.    Durch den zunehmenden Konsum von Cannabis litten meine schulischen Leistungen. Den Stoff bekam ich von älteren Kollegen, die bereits in Ausbildung waren und Lehrlingslohn hatten, geschenkt. Oder ich gab mein Taschengeld dafür aus. Nach einer grandiosen Saison im Fussballclub sackten im Folgejahr Motivation und Konzentration durchs Kiffen rapide ab. Ich veränderte mich körperlich und psychisch und ich bekam vom Team zu spüren, dass meine Leistung nicht mehr genügte. Zu dieser Zeit begann ich mich an Musikern zu orientieren und baute ein Image als Bad Guy auf. Sport wurde mir gleichgültig.    Das einzige Fach, das mir in der Schule richtig Spass machte, war Musik. Ich spielte Bass und sang in der Schülerband. Es machte mir sehr viel Spass und unsere Auftritte waren ein grosser Erfolg. Auf dem Dorf liegt der Fokus bei der Berufswahl vor allem bei Handwerk, Verkauf, Sozialem oder einer weiterführenden Schule. Ich empfand meine Lehrer als «Bünzlis» mit einer eingeschränkten Sicht. Es fehlte ihnen die Antennen, mich bei der Berufswahl in meinen künstlerischen Fähigkeiten zu unterstützen. Kunst war einfach nicht auf ihrem Radar. Ich flog, weil ich den Unterricht mit Spässchen oder Aufmüpfigkeit störte, oft aus dem Klassenzimmer und musste den Stoff bei einem Schulpsychologen nachholen. Das war mein Glück. Er war Musiker, fuhr einen Hippiebus, mit ihm spielte ich Schach und führte coole Gespräche unter anderem über Musik. Lehrer und Mitschüler hatten damals einen grösseren Einfluss auf mich als meine Eltern. Sechs Monate vor Schulschluss hatte ich noch keine Lehrstelle. Mein Lehrer pushte mich mit seinen Vorschlägen auf den Bau zu gehen, weil es körperlich und mit den Schulleistungen zu mir passen würde. Ich hatte einfach keine Ahnung, was ich machen wollte, obwohl ich in verschiedenen Berufen geschnuppert hatte. Ich wählte den Beruf als Elektromonteur unter Druck und nahm dann halt eine angebotene Lehrstelle an.    Zwischen Oberstufe und Lehrbeginn besuchte ich das Open Air Frauenfeld und lernte andere Substanzen kennen. Ich war mit einer Clique unterwegs und auf dem Gelände war alles erhältlich. So kam ich zu MDMA. Jede Pille hat einen anderen Namen oder Aufdruck, der auf die Wirkung hinweist. Es gibt Inhaltsstoffe, die Serotonin und Endorphin ausschütten oder Halluzinogene enthalten. Mit MDMA intus liebst du alle und alles. Bei meinem ersten Trip lag ich wach in meinem Zelt, schwebte auf einer Glückswolke und fühlte mich selig und verbunden mit der Welt. Ein MDMA Rausch hält vier bis sechs Stunden an. Mein längster dauerte drei Tage.   In meinem Alter kannte jeder Zweite einen Erwachsenen oder Jugendlichen, der sein Taschengeld mit Dealen aufpimpt. Unsere Region ist gut bedient mit Drogen aller Art. Ich kam später zu Xanax, das Benzodiazepine enthält. Wir nennen es Downer, es hält deine Emotionen auf taub, damit du nicht alles so an dich heranlässt. Das Beruhigungsmittel wird normalerweise vom Arzt verschrieben, ist aber auf dem Markt frei erhältlich. Es ist in der Musikzsene eine Trenddroge. Man kann mit Xanax Scheisserlebnisse einfach vergessen, wie auslöschen. Es ist ein Pain Killer. Xanax, Cannabis und Alkohol konsumierte ich am meisten. Meine Eltern gingen mit dem Kiffen easy um, sie bekamen den Wechsel auf andere Substanzen nicht mit.    Mein richtiger Absturz begann mit Lehrbeginn. Der gewählte Beruf als Elektromonteur gefiel mir überhaupt nicht und doch versuchte ich, mich dem Betrieb und meinen Mitschülern anzupassen. Stärker noch als in der Schulzeit fiel mir auf, dass ich anders war. Mir waren andere Sachen wichtig, ich hatte eine andere Denkweise als der normale Gleichaltrige. Es gab ein paar Wenige, mit denen ich mich austauschen konnte und von denen ich mich verstanden gefühlt hatte. Ich machte mir grundsätzlich viele Gedanken über das Leben, die Gesellschaft und was andere von mir hielten. Ich konnte mich selber nicht akzeptieren und hatte eine falsche Selbsteinschätzung. Das Abgrenzen machte mich zum Aussenseiter und ich setzte meine eigenen Trends. Das Betriebsklima auf dem Bau war grob, der Tagesablauf brachte mich körperlich und psychisch an Grenzen. Am ersten Tag bekam ich morgens eine Betriebsführung. Ab dem Nachmittag war ich schon auf der Baustelle und musste einfach funktionieren. Ich wusste schnell, dass das nicht mein Beruf und mein Arbeitsumfeld ist. Meine Eltern versuchten mich erst zu motivieren, anerkannten aber bald, dass ich keine Freude hatte und es keinen Sinn machte, etwas drei Jahre lang durchzuziehen. Sie unterstützten mich, eine Alternative zu finden. Im Zug der Gespräche erfuhren sie, dass ich heftigere Drogen nahm und sie zogen fachliche Hilfe zu.    Nach dem Abbruch fiel ich in ein Loch. Ich hatte keinen Plan, keine Lust mehr auf gar nichts mehr. Als mich meine Eltern zur Überbrückung ins zehnte Schuljahr schickten, wollte ich das gar nicht. Da war ich an meinem absoluten Tiefpunkt angelangt und ich wollte nicht mehr leben. Ich fühlte mich als Versager und Junkie. Ich war gefangen in meinem Kopf, mir war langweilig, die Schule passte mir überhaupt nicht. Mir fehlte jegliche Motivation und Antrieb, eine neue Lehrstelle zu finden und nochmals von vorne zu beginnen. Rückblickend anerkenne ich, dass das zehnte Schuljahr mir eine Tagesstruktur gegeben hatte, auch wenn, alles, was in dieser Zeit passierte, weder für mich noch für meine Mitmenschen schön war. Ich weiss nicht, wie ich es anders hätte machen können. Am liebsten hätte ich nach Lehrabbruch eine Zeitmaschine gehabt, um ein Jahr zurück in die Berufswahl zu reisen und etwas anderes zu wählen.    Ende Oktober 2019 schaute ich mit einem Kollegen den Film «Joker» im Kino. Er musste nach der Aufführung nach Hause und ich fühlte mich total lost. Ich war richtig down, weinte, liess mich durch Konstanz treiben und hatte einfach keinen Bock mehr zu leben. Bei der Seebrücke sprang ich und erhoffte durch den Aufprall bewusstlos zu werden. Die Winterklamotten sog sich voll mit dem arschkalten Wasser und ich sank. Dann regte sich eine Stimme, die keine Lust hatte, langsam zu erfrieren und so kämpfte ich mich zur Promenade ans Ufer zurück. Im Zug war ich klitschnass, schlotterte und fühlte mich einfach nur einsam und beschissen. Kein Schwein fragte nach. Alle schauten mich nur blöde an. Vom Bahnhof fuhr ich mit dem Rad nach Hause und schlich spät nachts in mein Zimmer. Meine Eltern schliefen schon und bekamen nichts davon mit.    Erst ein Monat später, als wir beim Psychologen eine Familiensitzung hatten, traute ich mich, darüber zu reden. Sie fielen aus allen Wolken und intensivierten die psychologische Betreuung. Die ersten Sitzungen fand ich richtig gut, weil ich bei einer neutralen Person reden konnte. Aber mit der Zeit ging es mir auf den Sack, immer über das Gleiche zu reden und keine neuen Perspektiven zu bekommen. Die Psychogespräche triggerten mich mit der Zeit sogar noch mehr. Ich dachte ja eh schon die ganze Zeit über mich nach und dann noch darüber zu reden, darauf hatte ich keine Lust mehr. Reden bringt bedingt etwas. Man muss etwas ändern, nicht nur darüber labern.    Ich lernte im zehnten Schuljahr neue Mädchen kennen und machte meine ersten einschneidenden Erfahrungen. Meine neue Freundin gab mir erst Aufwind. Aber da ich haltlos war, wurde ich sehr schnell abhängig und manipulierbar. Sie war auch psychisch kaputt, ohne Mutter bei einem sehr strengen Vater aufgewachsen. Mit ihm konnte ich es überhaupt nicht. Meine Freundin aus dem Balkan trieb Psychospiele mit mir und wiegelte mich gegen ihren Exfreund auf. Sie fühlte sich als Prinzesschen, das ihre Jungs anstachelte, die sich um sie prügeln sollten. Als ich mit ihr Schluss machte, wurde ich von Banden bedroht, verfolgt und zusammengeschlagen. Die Polizei war auch involviert. Ich habe heute noch eine Narbe von einem Stellmesser am Bauch. Wenn ich auf dem Schulweg alleine auf Bahnhöfen warten musste, stand ich panische Ängste aus. Ich nahm in dieser Zeit psychodelisches Zeugs, was meine Panikattacken verstärkte. Acid und die Nachwirkungen machten mich paranoid. Xanax nahm ich täglich. Es gehörte zu meinem Brot und Wasser. Ich hatte keine gesunde Selbstwahrnehmung mehr.   Musik wurde mein Rettungsanker. Meine ersten beiden Songs nahm ich nach dem Lehrabbruch auf. Musik wurde ab dann zu meinem Ventil. Wenn ich Songs schreibe, singe und mit andern Jungs musiziere, schüttet mein Body Glückshormone aus, dann brauche ich keine Substanzen. Es macht mir Freude und ich fühle mich lebendig. Am liebsten produziere ich mit verschiedenen Musikern, um mich bei den unterschiedlichsten Sounds einzubringen, Genre zu mischen und zu experimentieren. Andere inspirieren mich und umgekehrt. Das ist sehr kreativ. Meinen ersten geilen Song «Stoner Gang» in Englisch nahm ich im Studio mit meinem Kollegen «Astrxgxd» auf.    Im März 2020 schnupperte ich in einem Heim für Hirnverletzte. Mir gefiel die Arbeit mit den beeinträchtigten Bewohnern vom ersten Tag an und mir wurde auch gleich eine Praktikumsstelle angeboten. Dankbar, die Schule verlassen zu können, trat ich im April die Stelle an und arbeitete im ersten Lockdown unter den erschwerten Bedingungen. Mein Einsatz wurde sehr geschätzt und ich fühlte mich sehr wohl im Team. Ich bin fasziniert von den Schicksalen der Bewohner. Mir macht es Freude, sie in ihrem Alltag zu unterstützen und in ihren Ressourcen zu fördern. Ein Schlüsselbeinbruch nach einem Skaterunfall im Frühling 2020 setzte mich zwar ein paar Wochen ausser Gefecht, aber ich bekam dennoch die Lehrstelle als FaBe (Fachmann Betreuung) auf den Sommer. Das Praktikum gab mir eine neue Stabilität.    Bei Lehrbeginn war ich clean, kam easy mit in der Schule und war auf richtig gutem Weg. Zur gleichen Zeit lernte ich meine neue Freundin kennen. Auch familiär gab es Veränderungen. Meine Eltern verkauften das Familienhaus und wir zogen ins Nachbardorf in eine kleinere Wohnung. Gleich nebenan mieteten sie ein Atelier dazu, dessen Einliegerzimmer mein kleines Refugium wurde. Darüber war ich froh, denn meine Eltern nervten mich zuweilen sehr mit ihrer Sorge um mich. Es gingen bei mir viele Kollegen ein und aus und ich musste lernen, mit der Freiheit und der Verantwortung umzugehen. Leider schlich sich mit dem Herbst bei mir ein «Läckmer» (Unlust) ein und ich begann wieder zu konsumieren. Auch mit der Freundin lief es nicht so, wie ich es mir erhofft hatte und wir trennten uns. Wahrscheinlich bin ich auch saisonal depressiv veranlagt. Im Frühjahr-Sommer fühle ich mich immer gut. Mit den trüben Tagen bekomme ich den Winterblues. Im Herbst 2020 machte ich keine Musik.    Covid verstärkte meine niedergeschlagene Grundstimmung. Einerseits wuchs man in das Ganze rein. Doch das stete Maskentragen bei der Arbeit und in den öffentlichen Verkehrsmitteln fuckte mich schon ab. Auch dass Kino, Hallenbad, Fitnessstudio verboten waren, nervte. Am allermeisten frustriert mich noch heute, dass ein Konzert, auf das ich mich seit drei Jahren freue, unzählige Male auf Unbestimmt verschoben wurde. Meine Abstürze kommen wahrscheinlich aus einer Mischung von Pubertät, Konsum und Covid. Ohne die Massnahmen hätte ich mehr Möglichkeiten gehabt, mich zu beschäftigen. Die Wahl war, sich bei mir, bei Kollegen oder im Freien zu treffen. Jugendliche brauchen öffentliche Räume, um sich zu treffen und auszuprobieren.    Ich schleppte mich also durch die Wintermonate. Im Januar 2021 verliebte ich mich neu. Leider lief wieder dasselbe Muster ab, wie bei den anderen Freundinnen vorher auch. Auch diese zappte zwischen ihrem Ex und mir hin und her, bis ich es bemerkte. Nach einem Streit warf ich vor Schulbeginn einen Cocktail aus Xanax und Alkohol ein. Dieser Mix «paced» (schaltete) einen aus. Ich schlief mit der Überdosis während des Schulunterrichts ein und die Lehrerin liess mich mit Verdacht auf Suizid ins Krankenhaus fahren, um mir den Magen auszupumpen. Da flog auf, dass ich wieder regelmässig konsumierte. Eine Woche später bekam ich die Kündigung des Lehrbetriebes, weil ich die Abmachung (clean zu bleiben) nicht eingehalten hatte und es für die Betreuten nicht zu verantworten war, dass ich stoned zur Arbeit gehe.    Als ich die Konsequenz begriff, war ich richtig angepisst von dem Girl und von mir, dass ich es so weit hatte kommen lassen. Ich stand wieder am genau selben Punkt, wie nach dem ersten Lehrabbruch. Am liebsten hätte ich mich aufgegeben und wäre ganz mit Drogen abgesackt. Etwas in mir wollte nur noch weg von all dem alten Scheiss, der Region und den Menschen. Meine Eltern fanden eine Option in Sansibar, wo ich in einem Permakulturprojekt hätte arbeiten können. Aber mit Covid war es sehr kompliziert geworden. Mein Therapeut riet mir zum Entzug. Ich fand das eine dumme Idee. Aber meine Eltern bestanden darauf. Sie waren am Ende ihres Lateins und unser Verhältnis war zu diesem Zeitpunkt sehr belastet.    Ich kam zweieinhalb Monate in eine regionale psychiatrische Klinik. Zu Beginn machte ich es den Eltern zuliebe. Aber als ich drin war und von den Therapien profitierte, kapierte ich, dass es die Chance ist und ich etwas für mich verändern kann. Da ich auf einer Erwachsenenstation war, kam ich mit extremen Schicksalen in Kontakt. Heroin-, Kokain- und Crack-Abhängige zu sehen, machte mich nachdenklich. Ich hatte tiefe Gespräche mit Betreuern und Bewohnern, die mich weiterbrachten. Mein Zimmernachbar hatte am selben Tag Geburtstag, war aber vierzig Jahre älter. Er ermutigte mich, mit Drogen und der Selbstzerstörung aufzuhören, damit ich nicht so endete wie er. Irgendwie bin ich froh, machte ich diese Erfahrungen so jung. Die Betreuer machten einen Superjob. Eine Bezugsperson formulierte mit mir Ziele und Perspektiven. Eigentlich dasselbe, was ich heute im Beruf mit den Bewohnern mache. Ich kann mir vorstellen später als Sozialarbeiter auf einer Suchtstation zu arbeiten.   In der Klinik war die Therapie anders. Ich bekam Skills, wie mit Suchtdruck und schlechten Emotionen umzugehen, bei Frust nicht auf Drogen zurückzugreifen, sondern andere Ventile zu finden. Ich lernte mich und meine Ressourcen besser kennen und welches Umfeld und Tätigkeiten zu meinem Charakter passten. Es wurde eindeutig, dass Musik und Sport Ausdrucksformen sind, die mich stärken. In der Klinik gab es ein Gym und Kunsttherapieangebot, wo ich malte und mit Ton arbeitete. Ich schrieb in dieser Zeit unendlich viele Texte. Das Praktische fehlte in den Psychotherapien zuvor, wo man nur sitzt und immer im Kreis labert. Sollte ich später mit Menschen in Krisen arbeiten, weiss ich, was wirklich hilft.    Seit der Klinik kann ich mich besser steuern und bin mir bewusster, was mich stärkt, und was mich schwächt. Die damalige Freundin hatte auch konsumiert und wir hörten gleichzeitig auf. Wir unterstützten uns gegenseitig und gaben uns über Monate Halt. Ich machte viel Fitness und begann meinen Körper wiederaufzubauen. Mein Lehrbetrieb anerkannte meine Fortschritte und meinen Willen. Und weil ich im Vorjahr einen guten Job gemacht hatte, bei Bewohnern und im Team geschätzt war, konnte ich nach der Klinik wieder als Praktikant einsteigen. Für den Sommer wurde mir sogar wieder eine Lehrstelle angeboten. Diese zweite Chance möchte ich auf keinen Fall verbraten.    Kaum hatte ich den Lehrvertrag im Juli unterschrieben, hatte ich eine Notoperation wegen eines Abszesses. Leider durfte ich den ganzen Sommer wegen der offen verheilenden Wunde weder im See schwimmen noch ins Gym. Als alles verheilt war, waren die Fitnessstudios wegen Covid wieder geschlossen. Das war schon frustrierend.    Mit meiner Familie durchlief ich alle Phasen. Meine Eltern empfand ich meist als Stütze, manchmal waren sie mir zu fürsorglich und ich fand sie nervtötend. In der Sekundarschule hätte ich mir andere gewünscht. Unsere Familie war anders als die Normalen im Dorf. Im Nachhinein sehe ich vieles anders. In der Klinik lernte ich mich auch in Bezug zu meinen Eltern zu reflektieren. Ich bin reifer geworden. Heute haben wir eine entspannte Beziehung. Ich bin sogar froh, dass meine Familie nicht bünzlig ist. Ich liebe meine grosse Schwester in Bern sehr. Sie ist auch Sozialarbeiterin und startet gerade ihre Karriere. Mein kleiner Bruder pubertiert und grenzt sich von mir ab. Ihn liebe ich auch sehr, auch wenn nicht dasselbe von ihm zurückkommt. Ich vermute, dass mein Verhalten bei ihm Spuren hinterliess. Meine Geschichte nahm sehr viel Raum ein und er ist zu kurz gekommen.    Heute habe ich mich im Griff und bin ziemlich stabil. Es kommt vor, dass ich an Partys gelegentlich etwas trinke oder kiffe. Aber ich lasse die Finger von Xanax und anderen Stoffen. Ich kann heute bei Versuchungen «Nein» sagen und mich von schlechten Einflüssen abgrenzen. Das war auch der Grund, warum ich mich schliesslich von der Freundin trennte. Wir hatten uns zwar gern, unternahmen jedoch wenig und die Co-Abhängigkeit war toxisch für uns beide. Ich zog bisher immer ähnlich psychisch labile Girls an. Wie ich selber halt. Jetzt bahnt sich endlich eine Beziehung mit einem soliden Mädchen an, die mit sich selbst klar kommt und viel Selbstliebe für sich hat. Wir führen tiefe Gespräche, unternehmen Dinge, die ich mit anderen Leuten nicht machen kann. Wir sind zufälligerweise am selben Tag mit nur drei Stunden Unterschied geboren. Sie ist meine beste Kollegin und Freundin zugleich. Sie gibt mir viel Zuversicht und wir lassen es langsam angehen.    Jungs sind vor allem Musikerkollegen. Ich bin derzeit daran, mit «BadBoyPain» ein Album auf Englisch aufzunehmen und bald einen Videoclip zu drehen. Mit «PhantomBeats» singe ich auf Deutsch. Es macht unendlich Spass, ins Studio zu gehen und einfach zu flowen und zu rhymen. Da kann ich richtig abschalten und bin total mich selber. Da kann ich meiner Kreativität vollen Lauf lassen.    Die Arbeit mit den Bewohnern gefällt mir sehr. Einzig Covid und der Personalmangel von Fachkräften sind belastend. Weil ich Betrieb und Abläufe schon gut kenne, wird mir viel Verantwortung übertragen. Das gefällt mir und ich verstehe mich auch mit dem Team sehr gut. Schulisch liegen mir die meisten Fächer. Bei ein-zwei könnte ich mich noch besser motivieren, manchmal lasse ich es schleifen, wenn ich keine Lust habe. Der Beruf «Fachmann Betreuung» passt total zu mir. Die Mischung Soziales und Kunst ist total mein Ding.    Tattoos bedeuten mir viel und sind wie History auf meinem Körper. Ein Musikerlogo war das Erste, das ich auf den Rücken stechen liess. Ich änderte schon drei Mal meinen Künstlernamen. Erst hiess ich «Confused Boy», dann «Independent Nightowl» und jetzt nur noch Jaro. Dieser Name ist simpel, kurz und international, der sich schnell einprägt. Das Zweite «Serdtse Boytsa» in kyrillischer Schrift auf meinen linken Unterarm heisst Kämpferherz. Es steht für mich, meinen Biss durchs Leben, die schwierigen Zeiten und dass ich mich mit meinem ganzen Herzen für eine gute Zukunft einsetze. Für mich und andere. Das Burning Heart ist symbolisch für meine Leidenschaft für die Musik, meine Beziehungen, die Arbeit – alles,  was ich mit Passion betreibe. Die Glückszahl «777» am Handgelenk erinnert mich, dass es auch Glück gibt im Leben. An der Wade habe ich mein Lieblings-Pokémon «Gengar». Es steht für die Kindheit, das Spielen, das Unbeschwerte. Insgesamt habe ich vierzehn Tatoos und es werden immer mehr. Ich mag den Schmerz und die Möglichkeit meinen Body mit Tinte einzigartig zu gestalten. Im Freibad sehen alle Körper gleich aus. Früher wollte ich gefallen und so sein wie die andern. Darum geht es heute; ich erlaube mir, anders, einzigartig und genauso zu sein, wie ich sein möchte.   Im Grossen und Ganzen bin ich auf gutem Weg und OK mit mir selbst. In meinem Kopf haben die Dinge ihren richtigen Platz gefunden. Was noch nicht ist, bekommt bestimmt noch seine Ordnung. Ich finde stetig heraus, was mir guttut und was nicht. Mir ist es wichtig, die Lehre gut abzuschliessen und mit der Musik voranzukommen. Ich zeichne auch gern zur Entspannung und zum Lückenfüllen bei Langeweile. Mir macht es Spass alte Kleider zu bemalen oder Graffities zu sprayen.    In zehn Jahren stehe ich auf der Bühne und/oder in einer Betreuungsstation als Sozialarbeiter. Ich wünsche mir eine feste Beziehung, nehme es aber, wie es kommt. Wenn ich auf die letzten achtzehn Jahre zurückblicke, habe ich eine Art Frieden gefunden. Einem der die Lehre abbricht oder eine Krise hat, würde ich sagen: «Finde eine Tagesstruktur, geniesse dein Leben, aber lass dich nicht hängen. Finde eine Balance zwischen dem, was du musst, möchtest und darfst.» Im kleinen Jaromir, mit den langen blonden Haaren, steckte etwas Wildes, was heute noch in mir ist. Ich würde zu ihm sagen: «Lass dich nicht zu sehr von anderen Menschen in den Kopf pflanzen, dass du falsch bist. Denn du bist cool. Du musst dich nur selber cool finden.» ​ Herbst 2021 ​

Foto: Julia Moll 
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